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KARDENDISTEL

Fast täglich gehe ich diesen Weg. Ich gehe ihn mit meinem Vater. In diesem Sommer ist er einhundert Jahre alt geworden. Er sagt, dass er noch auf eigenen Beinen gehen kann. Er sagt, ich brauche noch keinen Stock, das ist was für alte Leute.

Wenn wir das Haus verlassen haben, kann es sein, dass die Kirchenglocken zu läuten beginnen. Da wird wieder Einer vergraben, sagt er.

Schon seit Monaten steht das Nachbarhaus leer, die Fensterläden bleiben geschlossen, am Eingang hängt noch immer der Korb für die Tageszeitung und die Frühstücksbrötchen.

Der andere Nachbar ist Mitglied im Kleintierzüchterverein. Seine Kaninchenställe stehen direkt am Weg. Seit seine Frau gestorben ist, hat er den Tierbestand auf die Hälfte reduziert.

Im letzten Haus am Weg ist eine junge Familie aus Weißrussland eingezogen. Überlebensgroße Frösche an einem Gartenteich, ausgelegt mit schwarzer Alufolie, weiße Plastikgänse vor einem wasserlosen Ziehbrunnen.

Bis zum Ende der kleinen Straße, in der mein Vater wohnt, sind wir achtzig Meter gegangen, schon oft habe ich die Schritte gezählt.

Hörst Du den Vogel, frage ich. Er bleibt stehen. Nein, ich höre nichts.

Wir biegen in eine asphaltierte Straße mit Schlaglöchern und Rissen. Der Vater trägt gutes Schuhwerk, ein Leben lang Wert darauf gelegt. Eine Holzbank unter einem uralten Birnbaum. Im Herbst sind die Früchte klein und sauer, niemand erntet sie mehr.

Wenn über Mittag die Sonne auf die Bank scheint, machen wir hier eine Pause. Sitzen vor einer großräumigen Scheune, die vor Jahrzehnten als Stall für Zuchtbullen gedient hat. Jetzt werden hier Geräte und Fahrzeuge für den Straßenbau abgestellt. Das frisch gedeckte Ziegeldach leuchtet rot in der Sonne. Ordentlich gemacht, sagt der Vater.

Auf dem Dachfirst sitzt eine Taube und ruft, ruft immerzu. Hörst Du die Taube, sage ich.
Ja, jetzt ich höre was.

An der Scheune vorbei führt der Weg auf einen Schotterpfad. Am Wegrand Brennnesseln und hohe Disteln. Eine Kardendistel, sagt der Vater. Dabei rollt er das R wie sein Vater von der Rauhen Alb.

Vor einer flach ansteigenden Wiese bleiben wir stehen, Hahnenfuß, Wiesenkerbel und Pusteblumen vom Löwenzahn, am Horizont hohe Wolken. Wie immer auf der Hohenloher Ebene weht ein leichter Wind, ganz in der Nähe kräht ein Hahn - unermüdlich.

Der Weg jetzt von Fahrspuren zerfurcht, führt vorbei an einer verlassenen Gärtnerei. Verrostete Gewächshäuser, zerbrochene Glaswände, Unkraut, meterhohe Schierlingspflanzen. Stark giftig, sagt der Vater.

Glaubst Du, frage ich, dass Sokrates den Schierlingsbecher wirklich freiwillig ausgetrunken hat? Da musst Du die Historiker fragen, sagt er.

Einer, der das Gelände erworben hat, wünscht uns einen Guten Tag. Täglich trägt er mit seiner Frau Schutt ab, löst von Hand Glasplatten aus den Gewächshäusern, reißt mit einem Schlagbohrer die Grundmauern auf.

Wenn die Luft warm ist und trocken, setzen wir uns auf eine niedrige Mauer gegenüber dem Gärtnereigelände. Von hier aus sehen wir auf den Kirchturm mit der bescheidenen Zwiebelhaube, mit dem Turmhahn und dem vergoldeten Zifferblatt . Manchmal streicht eine herrenlose Katze um unsere Beine. Wer bist denn Du, sagt der Vater, fährt dem mageren Tier übers Fell.

Jede Viertelstunde hören wir die Turmuhr schlagen. Aus der Entfernung sind Zahlen und Zeiger nicht zu erkennen. Wenn die Sonne auf der Haut brennt oder der Wind in den Nacken bläst, ist es Zeit für den Rückweg.

Manchmal gehe ich den Weg allein, lasse die Ortschaft rasch hinter mir, der Weg steigt bis zu einer Anhöhe. Über mir ein weiter Himmel, vor mir ein Wald, dahinter ein Tal. Bei klarer Sicht kann ich im Süden den Gebirgszug der Schwäbischen Alb erkennen. Gegen den Horizont zeichnen sich die Konturen gekrümmter Apfelbäume in karger Schönheit ab.

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