Inge Buck (Hrsg.)

Aus dem Gepäck der Kriegskinder
aufgeschrieben und aufbewahrt in Gedichten und Prosatexten

Zum Inhalt:

Wenn "Kriegskinder" über den Krieg schreiben, schreiben sie über das Kind, das sie waren, aus dem Blickwinkel des Kindes mit dem Wissen von heute. Eingebrannte Bilder kommen nach über 70 Jahren zur Sprache. Eine Gratwanderung zwischen Erzähltem und Nicht-Erzählbarem, zwischen Lebensgeschichte und Zeitgeschichte, zwischen Schweigen und Schreiben in Gedichten und Prosatexten, die in diesem ungewöhnlichen Band versammelt sind.

Das Vorwort:

In weite Ferne gerückt und doch zum Greifen nah, unscharf als Gesamtbild und doch deutlich im Detail, die Bilder der Erinnerung aus dem "Gepäck der Kriegskinder".

Als im Herbst 2014 das Bremer Literaturkontor mir die Leitung eines Schreibprojekts zum Thema "Kriegskinder" antrug - für Autorinnen und Autoren, die den Zweiten Weltkrieg als Kinder oder Jugendliche erlebt hatten – war es im Gedenkjahr 2014 eine Herausforderung, sich der Thematik im Rahmen eines Workshops literarisch anzunähern.

Mit der Ausschreibungsformulierung "Aus dem Gepäck der Kriegskinder - aufgeschrieben und aufbewahrt in einem Gedicht", hatte ich für den nahezu uferlosen Kriegskinder-Stoff an eine begrenzende Form gedacht: an das Gedicht als Rahmen, als Aufbewahrungsort für Erinnerungen, als pars pro toto des Individuellen, in dem das Allgemeine sichtbar wird.

Die Resonanz auf die öffentliche Ausschreibung war eher zurückhaltend, wenn nicht abwehrend, vielleicht sogar angstbesetzt. Für den Workshop meldeten sich nicht mehr als sechs Interessenten an, von denen mit Mathias Groll und Christine Mattner zwei blieben - und schrieben.

Ich verstand mich nur als Koordinatorin, um das Schreibprojekt professionell anzuleiten und zu begleiten. Es kam jedoch anders. Ich selbst begann mich zu erinnern und mitzuschreiben. Wir begaben uns auf eine Reise in die Vergangenheit, die ihre eigene Dynamik entfaltete.

Wir schrieben nach vorgegebenen Themen - z. B. über Das Kind, das ich war; Fliegeralarm und Luftschutzbunker oder Mein Vater im Krieg. Dabei geriet die Form des Gedichts bald an ihre Grenzen, manche Erinnerungsfelder ließen sich kaum in der Form eines Gedichtes fassen, neben Lyrik entstand auch Kurzprosa.

Wir schrieben gemeinsam und jeder für sich, wir schrieben von Hand, mit weichem Bleistift, der leicht übers Papier gleitet. Wir kritisierten, strichen, ergänzten, schrieben um, schrieben weiter. Indem die Texte nach und nach Gestalt annahmen, maßen wir die zeitlichen und räumlichen Dimensionen unserer Erinnerung aus. Und erkannten uns wieder in den Texten als die Kinder, die wir waren, als die Kinder, die den Krieg als ihren normalen Alltag erlebt hatten.

Das Schreibprojekt "Aus dem Gepäck der Kriegskinder" im Herbst 2014 für zwei Wochenenden vom Bremer Literaturkontor in Kooperation mit der Deutschen Friedensgesellschaft geplant, überdauerte den Winter. Im Frühjahr 2015 war aus Gedichten und Geschichten ein Manuskript entstanden, in dem das Allgemeine der Kriegskinder-Generation des Zweiten Weltkrieges in den individuellen Texten sich wiederspiegelt; denn "Im Individuellsten wird das Allgemeinste sichtbar."(Adorno, Minima Moralia).

Mit einer Lesung in der Bremer Villa Ichon konnten die Arbeiten aus dem Workshop abgeschlossen und öffentlich vorgestellt werden, begleitet von der Resonanz eines Publikums, das in den Texten eigene, vielleicht bisher kaum ausgesprochene Erfahrungen aus der Kriegszeit wiedererkannte.

In Gesprächen mit dem Falkenberg Verlag Bremen entwickelte sich das Schreibprojekt schließlich zum Buchprojekt, für das mit Lisa Helms, Siegfried Marquardt, Hartwig Struckmeyer, Karl-Heinz Tauss und Ursula Ziebarth weitere Bremer Autorinnen und Autoren der Kriegsgeneration gewonnen werden konnten.

Alle Autoren und Autorinnen haben für den vorliegenden Band neue Texte geschrieben, Texte, die sie eigentlich nicht schreiben wollten, Erinnerungen, die ungewollt aufstiegen aus dem inneren Gepäck der Kriegskinder im großstädtischen, kleinstädtischen und dörflichen Raum zwischen Hamburg und Bremen, München und Serbien, Cuxhaven und dem Schwarzwald, in der zeitlichen Spanne der Geburtsjahrgänge zwischen1920 und1940.

Jeder Autorin und jedem Autor ist ein eigenes Kapitel gewidmet, eingeleitet mit einem Motto, in dem der Ton der jeweiligen Texte anklingt. So unterschiedlich die Erinnerungsräume sind, so lassen sich doch zwischen den Gedichten und Prosastücken Linien und Muster erkennen, ein Sub-Text, in dem der Zeitgeist des NS-Regimes und seine Folgen spürbar werden. Die Orte der Kriegskinder: im Luftschutzbunker zuhause, ausgebombt, zwangseinquartiert, evakuiert, kinderlandverschickt, auf der Flucht, zu Fuß unterwegs.

Wo ist der Krieg? Der Kriegsalltag, der als normal erlebt wird, in dem die Spiele weiter gehen, die Normalität des Schreckens, die heute in den Texten in einer Lakonie der Sprache ihren Ausdruck findet.

Der untrügliche Blick der Kriegskinder auf das, was ist - eingebrannte Bilder - und gleichzeitig die Imagination der eigenen Unzerstörbarkeit.

Inge Buck
Sommer 2015

Kriegskinder