Prof. Dr. Gert Sautermeister

Buchpremiere am 06. September 2016

Einführung zu
Inge Buck
"Die Grenzen des Sommers"
(Sujet Verlag, Bremen 2016)

Sehr verehrte Gäste, liebe Literaturfreunde

Vielen von ihnen ist Inge Buck als Lyrikerin wohlbekannt, weniger als Erzählerin. Doch so wie sie als Lyrikerin Leser und Hörer durch ihr hohes Niveau fesselt, betritt sie nun die Erzählszene mit einer vielversprechenden Sammlung von Prosatexten, die ein lebhaftes Echo seitens ihrer Leser und Hörer verdienen.

Es handelt sich um eine Anthologie verstreuter Texte, die Inge Buck in den letzten 50 Jahren verfasst hat und nun in verschiedenen Textgruppen miteinander verbindet. Es handelt sich meist um Kurzgeschichten und Kurzerzählungen, die um einige wenige unterhaltsame Kurzdramen ergänzt werden. Der Begriff "Kürze" ergibt sich hier nicht zufällig – er bezeichnet eine von Inge Buck bevorzugte Darstellungsweise. Kürze bedeutet Verzicht auf Weitschweifigkeit und Langatmigkeit, bedeutet Prägnanz, Präzision, Verdichtung. Ähnlich wie Inge Buck in ihren Gedichten Prägnanz und Verdichtung liebt, so auch in ihren Prosatexten. Einige von ihnen sind Musterbeispiele eines konzisen und komprimierten Erzählens.

Dabei kommt es Inge Buck auf eine abwechslungsreiche Gestaltung der Handlungszeit an. So finden sich in ihrer Anthologie Erzähltexte, die auf anderthalb Seiten Momentaufnahmen bieten, zum Beispiel Momentaufnahmen eines heißen "Stadtsommers", doch es finden sich ebenso kurze Texte, die ein ganzes Leben komprimiert vorführen, beispielsweise die Erzählung "Ein altgewordenes Kind". Hier die kurze Zeitspanne eines Sommertags in Schlaglichtern, dort Kindheit und Altern in untergründiger Verbindung. "Variatio delectat" heißt eine bekannte lateinische Redewendung – Abwechslung erfreut, stiftet Vergnügen.

Auch ein Kürzesttext bietet Inge Buck Raum genug für zeitkritisches Erzählen, und dies auf originelle Weise. "Die Grenzen des Sommers" ist der Titel des Erzählbands, der auch Titel einer Erzählung ist. Darin wird die schöne Jahreszeit nicht in ihrer "Mittagsglut" und als warmer geselliger "Sommerabend" vorgestellt wie in "Stadtsommer", sondern als feuchtes, nasskaltes Tief. Auch das ein Zeugnis für Inge Bucks variationsreiches Erzählen. Diesmal aber erschrecken wir. Die Autorin beschreibt den unwirtlichen Sommer mit ironischer Feder in einem Freibad, wo die Badegäste ihren gewohnten Ritualen des Schwimmens und Sonnenbadens nachgehen wollen, nun aber auf "Regenmänteln" liegen oder "wie in einer Notunterkunft zusammengerollt in Decken" kauern. Visionär vergegenwärtigt Inge Buck den Klimawandel durch einen Vorausblick in die Zukunft. Wir sind selbstverständlich gegen den Klimawandel eingestellt – und gewöhnen uns dennoch nach und nach an ihn. Aus dieser Gewöhnung reißt uns die Erzählerin mit einem Schlag. Ihre frierenden Badegäste mit ihren grotesken Schutzmaßnahmen lassen uns hautnah spüren, was uns in Zukunft bevorstehen kann. Wie ein elektrischer Stromstoß durchfährt uns beim Lesen die winterliche Badeszene; jetzt erleben wir gleichsam physisch ein mögliches Unheil.

Befreiung von Gewöhnung und Routine – ist das nicht immer schon eine Intention anspruchsvoller Literatur? Inge Buck demonstriert das in weiteren Erzählungen. Sie setzt dabei ein besonders anschauliches Kunstmittel ein – das gegenständliche Detail, das bildliche Aussagekraft besitzt. "Der Liebhaber" ist der Titel einer Kurzgeschichte, die ein in Gewohnheiten erstarrtes Liebesverhältnis aufrollt. Details wie die immer gleiche Uhrzeit, die immer gleichen Gebärden und Getränke charakterisieren den Liebhaber, einen Routinier alter Schule. Von seiner Herrschaft befreit sich die Geliebte am Ende durch ein einziges gegenständliches Detail – einen Stuhl, den sie couragiert dem Liebhaber entzieht – ein emanzipatorischer Befreiungsversuch. Inge Bucks dinglich-anschaulicher Erzählstil versteckt den Sinn des Geschehens in Bildern,. die wir auf eigene Faust deuten und enträtseln können. Sie macht uns Leser zu aktiven Mitspielern.

Ihre Prosatexte haben meist – um eine weitere Eigenart zu nennen – einen doppelten Boden, sei es, dass der Tod in die alltägliche Handlung hineinspielt, sei es, dass plötzlich der Krieg am Horizont heraufzieht. "Urlaubsfotos aus dem Krieg" ist eine Erzählung betitelt, die an einem dänischen Urlaubsstrand spielt. Während die Erzählerin ins Meer hineinträumt, tauchen Kriegsfotos ihres Vaters aus der Sowjetunion und aus Frankreich in ihrer Erinnerung auf: Mittels kühner Montage wird das erinnerte Kriegsgeschehen in den dänischen Urlaub hineingeschnitten, und während die Erzählerin "das Rauschen des Meeres" hört, steigt aus den Kriegsjahren die "Brandung" der französischen Atlantikküste vor ihr auf. Sie lebt auf zwei Zeitebenen gleichzeitig, und in die friedliche Idylle an der dänischen Küste mischt sich der unheilvolle Krieg der deutschen Wehrmacht. Eine kunstvolle Parabel über das Fortleben der Vergangenheit in der Gegenwart – und über die mögliche Doppelbödigkeit unserer Existenz. Das verleiht diesen Erzählminiaturen eine hintergründige Tiefe.

Doppelter Boden entsteht auch durch das Todesgefälle im Leben vieler Figuren. In der Kurzgeschichte "Ein altgewordenes Kind" leidet eine einsame Frau unter dem Gewicht der Toten, die ihren Lebensweg säumen; in der Erzählung "Im Schönheitssalon" begeben sich Frauen zur Körperpflege "in Liegekabinen von der Größe eines Sargs", wie die Erzählerin mit kühner Todesmetaphorik bemerkt. Die sehnsüchtigen Träume der Körperschönen über südliche Strände und erotische Hingabe schützen nicht vor dem Altern und dem Tod. Manchmal hinterlässt nur ein Testament die Spuren ihrer Sehnsucht und ihres ungelebten Lebens.

Die Vielzahl der Einsamen, die dem Tod geweiht sind, bildet die dunkle Seite im Erzählwerk Inge Bucks. Ihnen gesellen sich Katastrophenfälle zu, für die sie einen wachen, unbestechlichen Blick hat: zum Beispiel in "Landleben", wo ein vermeintlich friedliches Dorf unaufhaltsam verfällt und unter menschlichen Dramen, Verschuldung, Wahnsinn, Selbstmord verkümmert. Die Einsamen, die Todes- und Katastrophenfälle ergeben die Moll-Tonart in Inge Bucks Anthologie. Die Moll-Töne gehören zur Vielstimmigkeit ihres Erzählens und wirken doch keineswegs deprimierend auf den Leser. Sie sind integraler Teil des Realismus der Autorin, der uns durch seine kunstvolle Darstellung fesselt.

Wie lässt sich, so fragt sich der Leser, von einer Katastrophe erzählen, die nicht nur lokale Ausmaße hat, sondern einen Erdteil in Mitleidenschaft zieht? Inge Buck löst das schwierige Problem souverän anhand der weltbewegenden Tsunami-Katastrophe von 2004. Die betreffende Erzählung – "Amad" lautet der Titel – richtet sich nicht auf die Tausend und abertausend Toten und die unermesslichen Zerstörungen an der Meeresküste Indonesiens – sie richtet sich auf einen vom Erdbeben erfassten Jungen und auf das Trauma, an dem er seither leidet. Indem die Erzählerin sich in ein Einzelschicksal versenkt und die Todesängste eines zehnjährigen Jungen mit ihrem schrecklichen Nachbeben heraufbeschwört, gemahnt sie an das Schicksal all seiner Leidensgenossen; am Einzelfall tritt uns beispielhaft eine umfassende Tragödie entgegen.

Das einfühlend erzählte Trauma des Jungen ist zugleich ein Notruf an uns, unsere Empathie, und ein Aufruf gegen das Vergessen. Und es lässt Raum für eine ermutigende Wendung. Denn die Heilkraft eines Magiers und das dem Jungen zugewandte Geschenk am Ende der Erzählung sind Zeichen des Mitleidens und des Trostes. Zum unbeschönigten Realismus Inge Bucks gesellt sich der Hoffnungsschimmer der Menschlichkeit.

Lothar Bührmann hat Inge Bucks Prosa mit seinen Cartoons begleitet, farbigen Zeichnungen, mit leichter eleganter Hand ausgeführt; mit ihren vielfältigen Zeichen bilden sie Kommentare zu den Erzähltexten und Kurzdramen. Der Leser kann nach jedem Text seine Augen auf die Cartoons richten und mit ihnen seine Lektüre-Eindrücke frei ausschwingen lassen, kann Anregungen und Impulse von Ihnen empfangen und sich ihrem subtilen Humor anvertrauen. So wird sein Lesegenuss bildlich erweitert und durch eine zarte Ironie beflügelt.