Inge Buck
 
Prager Tagebuch
Prosa Lyrik
 
Pinselzeichnungen
Gunther Gerlach
 
Prag – ein Ort der Erinnerung und der Sehnsucht, selbst für diejenigen, die nie dort gewesen sind. Wie nähere ich mich dieser Stadt, wie erkunde ich sie, um darüber zu schreiben?
 
Viele Wege führen nach Prag, abseits der Pfade, geradeaus mit einem Reiseführer oder auf virtuellen Wanderungen durch das alte und neue Prag. Wo Straßen, Gassen und Brücken an Künstler, Dichter oder Komponisten erinnern, die Moldau, ein gleichmütiger Fluss, sich nicht in die Tiefe schauen lässt. Wo Häuserfassaden entlang der breiten Uferstraße überquellen von üppig wuchernden Pflanzen und Früchten aus Stein, Blumenvasen, bombastischen Girlanden, in barocken Kirchen die Heiligenlegenden von den Glasfenstern leuchten: Bilderflut einer vergangenen und gegenwärtigen Schönheit.
 
Wo mir die Geschichte begegnet, die Beziehung der Tschechen zu den Deutschen, der Deutschen zu den Tschechen, wo Lidice 22 km entfernt liegt von Prag.
 
Wo ich die unscheinbaren Orte erkunde, jenseits touristischer Attraktionen, den Alltag der Menschen in den Parks, in der Straßenbahn, in den kleinen Läden in der Nachbarschaft. Und die tschechischen Namen auf Straßen, Plätzen und Bahnhöfen buchstabiere, den melodischen Klang der tschechischen Sprache höre, ihren harten und weichen Rhythmus.
 
Die Pinselzeichnungen von Gunther Gerlach begleiten durch die Wege und Orte, öffnen die eigene Bildwelt des Lesers, verweben und umrahmen mit freien bildnerischen Assoziationen.
 

 
Gert Sautermeister
 
Inge Buck: Prager Tagebuch
 
Einführung zur Buchpremiere
 
Verehrte Literatur- und Kunstfreunde,
 
Gestatten Sie mir einige einführende Hinweise zu Inge Bucks „Prager Tagebuch“. Im vergangenen September weilte die Autorin – die meisten von Ihnen kennen und schätze sie als Erzählerin und Lyrikerin – auf Einladung des Prager Literaturhauses in der tschechischen Hauptstadt. Ihre Eindrücke und Erfahrungen hielt sie in tagebuchartiger Form fest; es handelt sich um Notizen, Momentaufnahmen und Reflexionen, teils in Prosa, teils in Lyrik dargeboten, so dass wir, die Leser, nicht nur den Wechsel von Tag zu Tag, sondern auch von verschiedenen Schreibformen erleben können. „Variatio delectat“ lautet eine ehrwürdige lateinische Redeform, Abwechslung erfreut.
 
Diese Abwechslung wird bereichert durch die vielfältigen Pinselzeichnungen, die Gunther Gerlach, als Bildhauer und Maler in Bremen seit vielen Jahren tätig, beigesteuert hat. Es sind Zeichnungen, die Inge Bucks Eintragungen begleiten, aber nicht festlegen; sie lassen Raum für freie Assoziationen, die uns vom Bild zum Wort führen können; sie erlauben uns, das Gelesene mit der Zeichnung eigenständig zu verbinden. Wir können die Lektüre im Bild ausschwingen lassen und von dort angeregt zum Text zurückkehren und ihn neu verstehen. Weil Gerlach seine Zeichnungen zwischen gegenständlicher und abstrakter Sphäre hält, schafft er einen Raum für Anspielungen, die der Leser vervollständigen oder als Geheimnis bewahren möchte. Reiner Text und künstlerischer Kontext ergänzen sich auf eine Weise, die den Leser zum tätigen Betrachter und den Betrachter zum produktiven Leser macht.
 
Inge Buck hat ihre Aufzeichnungen in drei Teile gegliedert. Schon der erste ist bemerkenswert genug. Er stellt sich als eine Vorbereitung für den Aufenthalt dar, eine über längere Zeit sich hinziehende Vorbereitung, wie es einer seriösen Reise im klassischen Sinne angemessen ist, zugleich aber eine ganz und gar zeitgemäße, moderne Vorbereitung per Internet, das der Autorin mannigfache digitale Wanderungen ermöglicht, so dass ihr die ferne Stadt und ihr eigenes Wohnviertel anschaulich naherücken und sie zugleich die Geschichte des Landes brennpunktartig erfassen kann.
 
Für Inge Bucks Prager Begegnungen ist gleich der Auftakt charakteristisch. „Meine Reise nach Prag beginnt frühmorgens in Bremen mit einem iranischen Taxifahrer, der Paläontologe ist und während der Wartezeiten Rilke liest, der Heine und Brecht zitiert“. Ein iranischer Wissenschaftler als Taxifahrer und Liebhaber der Literatur – das lässt ein ganzes, ein schweres Schicksal erahnen. Ungewöhnliches im Alltäglichen entdecken ist für Inge Bucks Wahrnehmungsweise kennzeichnend.
 
Auf schlichten tschechischen Banknoten, sozusagen dem alltäglichsten Handels-Papier, frappieren die Autorin die „Abbildungen von Repräsentanten der tschechischen Geschichte“ (S. 24). Sie nennt das mit einer originellen Metapher die „Bildergalerie der fremden Währung“ (S. 27) und lädt uns, die Leser, dazu ein, uns Gedanken über das Geschichtsbewusstsein der Tschechen zu machen. In ihrem Gedicht mit dem Titel „Prag“ gibt sie eine typische Straßenansicht wider, nichts Besonderes, so scheint es, und doch wirft die scharfsichtige Beobachtung ein Blitzlicht auf moderne soziale Zustände:
 
„Am Straßenrand knien Bettler
Touristenströme ziehen vorbei
Von den Dächern blicken unbeteiligt
Die Heiligen“ (S. 49)
 
Die Armut, der Reichtum und die Ohnmacht der Religion in wenigen knappen Zeilen eindringlich komprimiert.
 
A propos „Touristenströme“. Inge Buck nimmt sie illusionslos wahr und versetzt ihren vorprogrammierten Führungen mancherlei Nadelstiche. Die Prager heute, so ihre pointierte Überlegung, müssten vielleicht ihr geschichtlich erprobtes „Widerstandspotential“ gegen die „Vereinnahmung durch den Tourismus“ richten (S. 22). Die Aufzeichnungen Inge Bucks sind ein diskretes Plädoyer für die Wahrnehmungskraft des einzelnen Betrachters, für sein kontemplatives Innehalten und Verharren.
 
Dafür bietet sich beispielhaft die vor den Toren Prags gelegene Gedenkstätte Lidice an, wo einst Deutsche zahllose Menschenleben vernichtet haben. Kaum ein Tourist ist dort zu sehen, mit knappen einfühlsamen Zeilen gedenkt die Autorin der katastrophischen deutsch-tschechischen Geschichte, die sie auch andernorts einblendet (vgl. S. 22). Das hat nichts mit sauertöpfischem Pessimismus zu tun, eher mit der Spannweite ihres geistigen Horizonts. Die Autorin bleibt aufgeschlossen für die wahrhaft hinreißenden Seiten Prags, beispielsweise für die Kunstgebilde der St.-Nikolaus-Kirche, die sie mit feinem Strich nachzeichnet, und sie lässt sich immer wieder fesseln von den „Bilderfluten“, die diese Stadt durch Architektur, durch Gärten, Brücken und Innenhöfe den Betrachtern bietet.
 
Die Straße, in der sie wohnt und die sie sich zu eigen gemacht hat als ihre „Prachtstraße“ (S. 37), lädt zum Flanieren durch „ungewöhnliche Häuserfassaden“ und „überquellende“ Jugendstilornamente ein (ebd.) – eine luxuriöse Verwöhnung des Auges, die den Leser zum neugierigen Begleiter macht. Wenn er dann die Autorin in ihr Haus hineingehen sieht, durch eine „schwere Holztüre“ und eine „vergitterte Stahltüre“, dann sie fünf Stockwerke mit 138 Stufen hinaufbegleitet zu ihrer großräumigen Stipendiaten-Wohnung mit verschwenderischem Licht des Himmels – dann hat er den Eindruck, dass dieses Haus und sein Aufstieg bis zur Himmelsnachbarschaft ein Symbol ist: Symbol für manche Phasen des Lebens, in denen die Überwindung von Schwierigkeiten und mancherlei Anstrengungen vergolten werden durch das Licht der Ankunft und weiträumige Ausblicke.
 
Dass Inge Buck auch in kleineren Dimensionen in Prag angekommen ist, auf alltägliche Weise, bezeugt sie mit dem beharrlichen Erwerb einer kostenlosen Senioren-Fahrkarte für die städtischen Verkehrsmittel. Und sie bezeugt es als Kundin unscheinbarer Läden für den normalen Haus- und Nahrungsbedarf. Es sind kleine, aber international gemischte Läden als wohlwollender Hintergrund für die bunte weltläufige und vor Sehenswürdigkeiten berstende Stadt.
 
Ich war noch nie dort, aber mit Inge Bucks Aufzeichnungen und Gunther Gerlachs Pinselzeichnungen bin ich dort inzwischen angekommen.