Pinselzeichnung von Gunther Gerlach

Inge Buck
Prager Tagebuch
Prosa Lyrik

Moldau

Prag, Mittwoch, 06. September 2017

Tag und Nacht sehe ich die Moldau von meinen Fenstern aus. Ich sehe die Brückenbögen der Jiráskův most, auffliegende Möwen, die Spiegelung der Bäume, der Häuserfassaden auf der anderen Seite.

Die Farbe der Moldau, ein schmutziges Braun, das ins Grün wechselt. Ich sehe die ruhigen Bewegungen der Wellen. Rucksacktouristen am Ufergeländer vorbeieilen, unaufschiebbar ein Ziel vor Augen.

Von meinen Fenstern aus inmitten der Stadt ist die Moldau ein gleichmütiger Fluss, der sich nicht in die Tiefe schauen lässt. Nur der weiße Schaum am Stauwehr gebärdet sich wilder.

Masarykovo nábřeží.

Prag, Donnerstag, 07. September 2017

Tag und Nacht höre ich die Sirenen der Krankenwagen, die Prachtstraße Masarykovo nábřeží liegt genau im Schnittpunkt der großen Kliniken zwischen Nové Město und dem gegenüberliegenden Ufer. Dass mich dieser Sound der Stadt auch am Schreibtisch begleitet, erinnert mich an Darius Milhaud, der in Paris am liebsten bei offenem Fenster unter brausendem Verkehrslärm komponiert hat.

Wenn ich meine Prachtstraße entlang flaniere, vorbei am Goethe-Institut mit goldener Schrift, sehe ich ungewöhnliche Häuserfassaden mit gotischen Bögen, Figuren im Halbrelief, mit üppig wuchernden Pflanzen und Früchten aus Stein, mit bombastischen Girlanden, überquellenden Blumenvasen, Säulen oder Lampen aus Glas, verziert mit einer goldenen Krone.

Das Haus, in dem ich wohne, hat fünf Stockwerke, täglich steige ich die steinernen Stufen hinunter und wieder hinauf. Um in das Haus zu kommen, muss ich zuerst eine schwere Holztür öffnen, dann nach einigen Treppenstufen eine zweite vergitterte Stahltüre. Dann steige ich hinauf, bei meiner letzten Zählung bin ich auf 138 Stufen gekommen. Wenn ich dann die Wohnungstüre geöffnet habe, blicke ich auf einen weiten Himmel, der sein Licht und seine Farben im Lauf des Tages ständig verändert.

Auf der Fassade des Jugendstilhauses, in dem ich wohne, steht das Wort Hlahol, benannt nach einem Gesangschor, der im Haus einen eigenen Konzertsaal hat. Unter dem Giebel leuchtet ein Jugendstilmosaik einer Harfenspielerin mit freiem Oberkörper und wehendem blauweißen Gewand, die dem Beschauer den Rücken zugekehrt hat, ihr gegenüber eine Gruppe Lauschender, darüber das Mosaik eines tiefblauen Himmels.